Fallstudie: Sexualisierte Gewalt und Schule

Aufarbeitungskommission veröffentlicht Studie zu sexualisierter Gewalt und Schule:

Die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat in einer Studie 133 Berichte von Betroffenen ausgewertet, die zwischen 1949 und 2010 sexualisierte Gewalt in der Schule erlebt haben. Fast ein Viertel der Berichte beziehen sich auf die DDR. In vielen dieser Fälle wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler weder durch Lehrkräfte oder anderes schulisches Personal geschützt wurden. Die Studie zeigt auf, wie die Aufarbeitung, Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt an Schulen verbessert werden kann.

Berlin, 03.12.2025. Die Schule ist ein zentraler Ort für Kinder und Jugendliche. Sie prägt ihren Bildungsweg, ihre persönliche Entwicklung und kann zudem ein wichtiger Rückzugs- und Schutzraum sein. Die Pflicht zum Schulbesuch ist gesetzlich verankert. Daraus entsteht eine besondere Schutzverantwortung für alle Schülerinnen und Schüler. Schätzungsweise sind1-2 Kinder pro Schulklasse von sexualisierter Gewalt betroffen – oft mit schwerwiegenden biografischen und beruflichen Folgen. In der Schule könnten sie Personen vorfinden, denen sie sich anvertrauen und Unterstützung erhalten.

Schule kann aber auch zum Tatort werden, wenn Kindern und Jugendlichen sexualisierte Gewalt durch Lehrkräfte, anderes schulisches Personal oder Mitschülerinnen und -schülern angetan wurde. Deshalb hat die Aufarbeitungskommission 2021 Menschen mit einer Kampagne aufgerufen, in einer vertraulichen Anhörung oder einem schriftlichen Bericht zu schildern, wie sie sexualisierte Gewalt in der Schule erlebt haben.

„Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, für ein unversehrtes Aufwachsen junger Menschen in Schulen zu sorgen“, appelliert Prof. Dr. Julia Gebrande,Vorsitzende der Aufarbeitungskommission des Bundes. „Wir wünschen uns, dass diese Fallstudie dazu anregt, sich vor Ort mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auseinanderzusetzen, die eigene Schulgeschichte aufzuarbeiten und Betroffenen zuzuhören. Die individuelle,institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch ist notwendig, um das Leid der Betroffenen und das Unrecht anzuerkennen. Wenn wir die Strukturen verstehen, die Missbrauch begünstigen, dann können wir das System Schule weiterentwickeln und Kinder und Jugendliche zukünftig besser schützen.“

133 Berichte und Anhörungen von Betroffenen wurden im Auftrag der Aufarbeitungskommission aus einer bildungshistorischen Perspektive ausgewertet. Knapp 80 Prozent der Betroffenen waren weiblich. Die überwiegende Mehrheit der Tatpersonen war männlich, sowohl bei Übergriffen durch Gleichaltrige als auch durch Lehrkräfte. In knapp der Hälfte der Fälle erstreckte sich die sexualisierte Gewalt über einen Zeitraum von einem Jahr. Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass in vielen Fällen von sexualisierter Gewalt keine Intervention durch Lehrkräfte oder anderes schulisches Personal stattgefunden hat. Oft gab es Mitwissende, die Kollegialität vor den Schutz der Kinder gestellt haben, Übergriffe ignoriert oder sogar vertuscht haben, um den Ruf der Schule zu schützen. Betroffene reagierten darauf häufig mit eigenen Strategien, um der Gewalt zu entkommen, und schwänzten beispielsweise die Schule oder wiederholten eine Klasse.

Prof. Dr. Edith Glaser, Autorin der Studie und ehemalige Leiterin des Fachgebiets Historische Bildungsforschung an der Universität Kassel,fordert deshalb Qualifizierung für Lehrkräfte, Schulleitungen und Personal in Schulaufsichtsbehörden: „Alle Akteure im Bereich Schule müssen anhand klarer Kriterien transparent intervenieren und die Vorfälle aufarbeiten, sobald sexuelle Übergriffe in der Schule bekannt werden – auch wenn sie schon länger zurückliegen. Dafür brauchen sie Kompetenzen, um Anzeichen von Missbrauch wahrzunehmen, einzuordnen und angemessen zu handeln. Deshalb muss Kinderschutz Teil der Aus- und Weiterbildung für Lehrkräfte werden.“

Eine weitere Erkenntnis der Studie ist die Bedeutung einer unabhängigen Beschwerdestelle. Aufarbeitung kann sowohl einzelne Schulen als auch die übergeordneten Strukturen betreffen. Daher braucht es in jedem Bundesland Strukturen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Ansprechpersonen und Expertise für die Aufarbeitung an Schulen. Erstellt wurde die Studie von Prof. Dr. Edith Glaser unter Mitarbeit von Dr.Friederike Thole und Dr. Eva Grommé.

Hintergrund:Die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht seit 2016 sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR ab1949. Am 1. Juli 2025 ist das Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kraft getreten, das die Arbeit der Kommission langfristig absichert. Die Kommission kann damit weiter vertrauliche Anhörungen von Betroffenen und öffentliche Hearings durchführen sowie Forschungsprojekte anstoßen, um Aufarbeitungsprozesse in Deutschland zu initiieren, zu begleiten und zu fördern.

Hier kommen Sie zur Fallstudie.

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